Donnerstag, 19. Juni 2008

“Aber er LIEBT seine Box!”


Wenn man mich in den Wahnsinn treiben will, muss man nur den oben genannten Satz über seinen Hund sagen. Funktioniert garantiert. Tief in meinem Herzen wusste ich schon immer, dass etwas daran einfach nicht stimmt. Irgendwie erinnert mich diese Aussage jedes Mal an Gehirnwäsche und 1984 von George Orwell. Doch nun bin ich endlich auf die wissenschaftliche Untermauerung meiner Abneigung gegenüber Hundeboxen gestoßen, und zwar in einem Buch mit dem Titel Handbook of Applied Dog Behavior and Training von Steven Lindsay. Es ist bisher leider nur in Englisch erhältlich. Der Autor ist ein Hundetrainer aus Newton Square in Pennsylvania und das Buch recht technisch geschrieben (und extrem anstrengend – fast 800 Seiten!)

Folgendes hat Lindsay über das Einsperren eines Hundes in eine Box zu sagen: „Viele Fürsprecher des langen Einsperrens eines Hundes in eine Box geben an, Hunde seien phylogenetisch an das Leben in einer Box gewöhnt. Diese Vermutungen basieren auf verschiedenen fehlgeleiteten Annahmen aus unangemessenen Vergleichen mit der Nutzung von Bauten durch wilde Hunde. Doch in Wahrheit hat eine Box wesentlich mehr mit einer Falle (oder einem Grab) gemein, als mit einem Bau. Ein Bau ist in Wahrheit mehr wie ein Zuhause, das natürliche Umfeld eines Hundes, das ihm den Zugang eines gemeinschaftlichen Innen- und Außenraums durch eine Tür ermöglicht. Der offensichtliche Unterschied zwischen einem Bau und einer Hundebox ist die physikalische Gefangenschaft, die Isolation und die Unmöglichkeit, auszubrechen. In einem Bau kann sich die Mutter zurückziehen und hat die Sicherheit, die sie benötigt, um ihre Jungen auszutragen und sich um sie zu kümmern; ein Bau beschränkt weder ihre Freiheit noch ihren Bewegungsdrang, so wie es eine Box tut. Anstatt ein sicheres Umfeld für die Jungen bereitzustellen, erfüllt die Box den direkten Zweck, den Hund von sozialen Beziehungen zu isolieren. Und anstatt ein Wohlgefühl und Sicherheit auszulösen, scheint der unausweichliche Ausschluss durch die Gefangenschaft eine gesteigerte Anfälligkeit für emotionale Ausbrüche und Unsicherheit auszulösen. Die meisten Welpen und Hunde zeigen beim ersten Einsatz der Box extremes Unwohlbefinden, was den vorangegangenen Vergleich bestärkt. Nachdem die Tiere festgestellt haben, dass sie der Box nicht entkommen können, entwickeln sie ein paradoxes Verhalten zu ihr, ähnlich dessen von Menschen mit dem Stockholm-Syndrom; sie gehen scheinbar eine enge Bindung mit der Box ein, die zu dem Ort wird, den sie als ihr Zuhause betrachten.“

Auf Wikipedia wird das “Stockholm Syndrom” wie folgt beschrieben: Unter dem Stockholm-Syndrom versteht man ein psychologisches Phänomen, bei dem Opfer von Geiselnahmen ein positives emotionales Verhältnis zu ihren Entführern aufbauen. Dies kann dazu führen, dass das Opfer mit den Tätern sympathisiert. Es kann sogar darin münden, dass Täter und Opfer sich ineinander verlieben oder kooperieren. … Der Begriff des Stockholm-Syndroms, das kein Syndrom im eigentlichen Sinne darstellt, ist auf das Geiseldrama am Norrmalmstorg vom 23. bis 27. August 1973 in Schweden zurückzuführen. Damals wurde Kreditbanken, eine Bank am Norrmalmstorg, im Zentrum der schwedischen Hauptstadt Stockholm, überfallen. Vier der Angestellten wurden als Geiseln genommen. Es folgten mehr als fünf Tage, in denen die Medien erstmals auch die Angst der Geiseln bei einer Geiselnahme illustrierten. Dabei zeigte sich, dass die Geiseln eine größere Angst gegenüber der Polizei als gegenüber ihren Geiselnehmern entwickelten. … Grundsätzlich neigen Menschen dazu, in Zwangs- oder Abhängigkeitssituationen auch moralisch bzw. ethisch bedenkliche Handlungsweisen von Autoritäten zu relativieren und eine Schutzhaltung für sich zu entwickeln. Dies gilt insbesondere für Familien, in denen auch gewalttätiges Verhalten von den eigenen Angehörigen oft toleriert oder im Nachhinein abgestritten wird, um sich selbst nicht weiter in Gefahr zu bringen oder den eigenen Selbstwert nicht zu verlieren bzw. für abhängig beschäftige Mitarbeiter, die (scheinbare) Sympathie für Vorgesetzte entwickeln, obwohl diese z.B. psychische Gewalt gegen sie selbst oder Kollegen der eigenen Gruppe/Abteilung anwenden.

Meine Güte, ich würde nicht wollen, dass meine Trainingsmethoden mit solch widerlichen Vorgängen in Verbindung gebracht werden!

Lindsay schreibt noch mehr über diese abnormale Zuneigung und warum eine Box für Hunde so schlecht ist: „Einige Welpen und Hunde scheinen unnormalen Gefallen an ihren Boxen zu finden und sind manchmal lieber in ihrer Box als bei ihrem Besitzer. Das tägliche zwangsweise Verweilen in dem sterilen Umfeld der Box kann beträchtlich die Entwicklung des Hundes beeinflussen, der dann nicht mehr, wie es normal wäre, ein weiters soziales und physikalisches Umfeld bewohnen und sich darauf einstellen würde. Obwohl die meisten Welpen zuerst mit Unbehagen auf das Eingesperrtsein in der Box reagieren, weichen der Stress und die Abneigung nach und nach einer seltsamen Zuneigung. Diese allmähliche Affinität scheint im Zusammenhang mit verstärkten Gefühlen der Sicherheit und des Wohlfühlens zusammenzuhängen, nicht mit gesteigerter Verletzlichkeit und Unsicherheit, wie man sie vielleicht in Situationen des Fallenstellens erwarten würde. Eine mögliche Erklärung für diesen paradoxen Effekt ist eine Theorie, die mit dem Gegenüber zu tun hat. Erfolgt eine langfristige Einsperrung in die Box, ergibt sich eine Situation, in der Trennungsangst und andere Reaktionen, die mit einer gefährdenden Isolation in Verbindung gebracht werden, nach und nach einem Gefühl der Zuneigung für das Gegenüber weichen, wo man sich sicher fühlt – dies ist das genaue Gegenteil von Stress und Verletzlichkeit, die anfänglich von der Box ausgelöst wurden … Diese Analyse hört sich vorerst nicht nach einem Problem für den Hund an, bis man über den möglichen Eingriff in die Bildung einer zufriedenstellenden Bindung und Zuneigung zwischen Halter und Hund nachdenkt … Bei Hunden, die häufig in eine Box eingesperrt sind…, entwickelt sich ihre Suche nach Wohlempfinden und Sicherheit möglicherweise nach und nach weg von der Familie und dem Zuhause, hin zur Box. Diese Hunde können eine starke Bindung und Abhängigkeit von der Box als Ort von Wohlempfinden und Sicherheit entwickeln. … Wenn viele Hundehalter also sagen, ihr Hund würde seine Box lieben, so steckt dahinter vielleicht mehr Wahrheit als erwartet; in einigen Fällen ziehen sie ihre Box ihrem Herrchen vor.“

Das tut mir wirklich in der Seele weh. Am meisten tun mir natürlich die eingesperrten Hunde leid, doch auch ihre Herrchen und Frauchen, die vielleicht eines Tages aufwachen und erkennen, wie sehr sie ihrem geliebten Hund geschadet haben.

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